Yoga für Anfänger: 7 Grundlagen jenseits der Asanas
Ich erinnere mich genau an meine allererste Yogastunde: Daran, wie es sich angefühlt hat, wieder etwas völlig Neues auszuprobieren; den Körper auf ganz neue Art und Weise zu bewegen; meine Gedanken zum ersten Mal bewusst zu beobachten; an die Nervosität vor der Stunde und meine Zweifel, ob ich Yoga „überhaupt kann“. Seither sind neun Jahre vergangen. Und auch noch heute wird immer dann, wenn ich auf meine Yogamatte gehe, wieder etwas Neues in mir lebendig. Oft darf ich mehr über mich selbst lernen – und hierdurch über das Leben.
Kobra, Krieger, Krähe – jedes Asana ist heute für mich ein echter Schatz. Was für ein Geschenk, Werkzeuge zu haben, die mir helfen, bewusst durch mein Leben zu navigieren. Immer mehr Menschen machen sich diesen Schatz zu eigen und integrieren Yoga in ihrem Leben. Wer Yoga mit offenem Herzen und einem Entdeckergeist übt, spürt früher oder später ganz automatisch, dass er weit über die körperliche Ebene hinausgeht.
Yoga für Anfänger – Reise nach innen
Bist du Yoga-Anfänger? Wunderbar! Viel Freude auf deiner Entdeckungsreise durch die vielen spannenden Ebenen deines Seins. Während du das Spektrum der Asanas kennenlernst, sollen dir diese 7 Grundlagen für Yoga für Anfänger eine Inspiration sein, alle Anteile deines Wesens – die körperlichen, die mental-emotionalen und die seelischen – von vornherein in deine Yogapraxis zu integrieren:
1. Der Atem ist dein Anker
Atem ist Leben. Dieser Satz klingt simpel und wir wissen, dass unser Leben in dieser Welt endet, wenn der Atem stoppt. Trotzdem bekommt er im Alltag vieler Menschen keine bewusste Aufmerksamkeit.
Anders im Yoga: Den Atem wahrzunehmen, seine Qualität zu spüren, ihn zu vertiefen und bewusst durch den Körper zu lenken, hat für deine Praxis eine fundamentale Bedeutung. Darüber hinaus ist der Atem dein Anker, der dich immer wieder in den Moment und zu dir selbst führt. Wenn die Gedanken dich wegtragen wollen, bring dich über den Atem ins Jetzt und zurück in deinen Körper. Mach den Atem zu deinem engsten Freund.
Atem und Bewegung
Annette Söhnlein
Yoga Ritual: Übungsserie für Einsteiger
S1:Fo1
2. Langsamkeit öffnet die Türen zu deinem Innern
Wenn wir Langsamkeit in unsere Yogapraxis einladen, erschließen wir innere Räume, zu denen wir aufgrund der Hektik des Alltags oft den Zugang verloren haben. Denn ständige Informationsüberflutung kommt mit einer Desensibilisierung einher.
Sich langsam zu bewegen, in Haltungen zu verweilen und sich so ganz der Erfahrung hinzugeben anstatt einem Ziel hinterherzujagen, ermöglicht es uns, die Bedürfnisse des Körpers wahrzunehmen und zu spüren, was wir wirklich brauchen. Betrachte deine Yogapraxis als eine Meditation in Bewegung. Genieße die stillen Momente, die dich nach innen führen werden.
3. Weniger ist mehr
Einer der vielen schönen Aspekte am Yoga ist, dass wir aus unserem gewohnten Trott ausbrechen können: Wir stellen die Welt auf den Kopf, stehen auf einem Bein, schicken den Atem an bisher unbekannte Orte. Yoga ist eine Spielwiese der körperlichen Selbsterfahrung. Da kann es allerdings auch schnell passieren, dass wir Yoga „konsumieren“ oder zielorientiert an die Praxis rangehen, zum Beispiel indem wir eine komplexe Haltung in kürzester Zeit meistern wollen. Dann erinnere dich: Im Yoga geht es nicht primär um den Körper, sondern um den Geist und um das Bewusstsein.
Um das Bewusstsein zu schärfen, lassen wir den Geist zur Ruhe kommen und werden zum Beobachter der Gedanken. Darum ist in der Asanapraxis weniger oft mehr, denn dieser Ansatz erlaubt es dir, deine Gedanken zu reflektieren. Fordere dich ruhig physisch heraus, aber überfordere dich nicht. Du kannst mehr Tiefe in deine Praxis bringen, indem du zum Beispiel Mudras, Mantras oder einen Sankalpa (Punkt 5) einbeziehst.
4. Dein Lebensstil beeinflusst deine Yogapraxis – und umgekehrt
Was du isst, wann du ins Bett gehst und wann du aufstehst, welche Informationen du aufnimmst, welche Luft du atmest oder welche körperlichen Tätigkeiten du im Laufe des Tages ausübst wirkt sich immer auch auf deine Yogapraxis aus – und umgekehrt. Yoga ist heute vielen zwar als eine Praxis oder Methode bekannt, aber schlussendlich ist Yoga eine Lebensweise, eine Art des Seins. Den Zusammenhang zwischen deinem Lebensstil und deiner Yogapraxis zu verstehen, wird dir helfen, tiefer zu gehen. Integriere zum Beispiel mehr frische Lebensmittel in Bioqualität in deinen Speiseplan, denn sie sind voll von Prana, der Lebensenergie, die wir in uns vermehren und lenken wollen. Oder steh mit dem Sonnenaufgang auf und leg deine Praxis in die Zeit von „Brahma-Muhurta“ in den frühen Morgenstunden, wenn Prana am reichhaltigsten ist.
5. Eine Intention bereichert deine Praxis
Unsere Gedanken und Taten erschaffen unsere Welt. Jede Entscheidung, die wir treffen, hat einen Einfluss auf das große Ganze. Alles im Universum ist dicht verwoben. Darum ist es so wichtig, mit einer klaren Ausrichtung durch das Leben zu gehen.
Beim Yoga kannst du üben, dich bewusst auszurichten und positive Intentionen zu formulieren, die für dich und alle Wesen heilsam sind. Ein „Sankalpa“ (fester Entschluss) für deine Praxis könnte zum Beispiel sein: „Ich bin präsent und verbunden mit dem Moment.“ „Ich vertraue in das Leben und erlaube, was ist.“ „Ich gehe mit Mut und Klarheit meinen Weg.“
Selbstreflexion in der Praxis
Yoga zum Sonnenaufgang with Kevin Courtney
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6. Dein Savasana ist essenziell
Savasana ist sicher eines der herausforderndsten Asanas, auch wenn die Haltung so unscheinbar daherkommt. Vielen ist das stille Liegen am Ende einer Yogastunde schlicht zu langweilig – aber in Savasana in deiner Endentspannung passiert die eigentliche Magie des Yoga. Darum mach die Totenstellung von Beginn an zu einem festen Bestandteil deiner Praxis.
Wenn du in Savasana geistig ganz präsent bleibst, während dein Körper zur Ruhe kommt, können die Energien, die in Bewegung gekommen sind, ihren Platz in dir finden. Blockaden und Altes, was nicht mehr zu dir gehört, finden ihren Weg nach draußen. Hier findet der „Reset“ deines Systems statt und alle neuen Erfahrungen können integriert werden.
Und schließlich: 7. Deine Praxis ist einzigartig
Je länger du Yoga übst, umso mehr wirst du über dich selbst lernen – über deine Fähigkeiten, deine Emotionen und Gedanken, deine Muster und Projektionen, deine Wünsche und Visionen. Je länger du Yoga übst, umso klarer wird dir, dass du mit all diesen Komponenten in deinem Wesen völlig einzigartig bist. Darum hast du auch eine ganz einzigartige Yogapraxis.
Jeder Mensch ist anders, weshalb du von vornherein Vergleiche mit anderen auf und jenseits der Yogamatte loslassen kannst. Wie befreiend! Nutze deinen ganz individuellen Yogaweg, um dich selbst besser kennenzulernen, hierdurch die Welt besser kennenzulernen und schließlich dein volles Potenzial zu entfalten.
Wie wir erwachen - Bandhas im Yoga
Im Hatha-Yoga geht es um die erfahrbare Einheit oder Zusammenführung von vermeintlich entgegengesetzten Kräften, um die Synergie, das gemeinsame Wirken der Polaritäten – oder einfach um Harmonie.
Diese Harmonie erlernen wir in dem Raum, der für uns das Gefäß unserer Wirklichkeit bildet: Der Körper und unser damit verbundenes Bewusstsein. Wer Freude erfährt weiß, da ist Freude in der Welt. Wer Schmerz erfährt weiß, da ist Schmerz in der Welt. Wer Harmonie oder Konflikt, Widerstand oder Reibung, wer Fluss und Verhältnismäßigkeit, Rhythmus und Ordnung, Kraft und Gnade im ehrlichsten aller Räume, dem tatsächlichen physisch-geistigem Selbst erfährt, erkennt diese auch in der Welt. Das ist der Grundstein der möglichen Einheit, oder „Samadhi“, oft übersetzt mit Erleuchtung aber doch einfach wörtlich „gleich sein wie das Höchste, oder das Erste, oder das Eine“.
Pranayama ist die direkte, experimentelle Auseinandersetzung mit diesen Kräften. Und Bandha das Instrumentarium der groben zur feineren Justierung. Wie der Gärtner lernt mit der Natur zu agieren, den Zeitzyklen und Lebensrhythmen, Temperatur und vor allem ein Verständnis der Verhältnismäßigkeit von Hitze und Feuchtigkeit, lernt der Praktizierende diese entsprechenden Prinzipien im eigenen Garten, im eigenen Körper.
Unser Körper ist in der Anlage allen anderen wachsenden Lebensformen naturgemäß sehr ähnlich. Wir brauchen entsprechende Bedingungen, um zu gedeihen. Für unsere Blüte brauchen wir die besten Zutaten, daher ist das erste „Bandha“ oder Schlüsselprinzip die Ernährung. Die Auseinandersetzung damit, woher unsere Nahrung kommt, was die Produktion mit sich bringt, ob dies im Verhältnis mit einer größeren Ordnung geschieht, u.a. weil beispielsweise eine Ernährung, die auf Kosten der Gesundheit anderer Wesen oder gar der Balance eines ganzen Planeten geht, offensichtlich und konsequenter Weise nicht gesund sein kann, oder eben den Lebenskräften nicht zuträglich. Leben ist im Kontext des Yoga nie Singular. Leben ist immer das Ganze, und wir eben ein Teil davon. Individuelle Gesundheit kann daher nur im Einklang mit dem Wohlergehen aller Wesen verstanden werden.
Der nächste Schritt ist die Verfeinerung der Wahrnehmung der grundlegenden Bewegungen der natürlichen Kräfte. Gravitation – Levitation. Jede Tat, jede Anwendung unserer kreativen Kräfte ist immer erdgebunden und verstärkt die Tendenz der Gravitation. Oder: die Tat ist ursächlich für die Wirkung in dem Maße, wie sie tatsächlich angewandt wird.
Die menschlichen Kräfte, die sich so äußern, nannten die Yogis „Tejas“. Wenn diese Kräfte jedoch in ihrer Absicht einem feinerem, evtl. selbstloserem Handeln gewidmet werden, wenn sie im Dienst einer weniger individuellen Erfüllungsebene stehen, befruchten diese Kräfte keine physische Reaktion, sondern spirituelles Wachstum und werden „Ojas“ genannt. Dieser Wandel unserer Handlungs- und Wirkungsordnung ist wohl der wichtigste Schritt auf dem Yogaweg.
Einfach gesagt: alles Unbewusste neigt sich zur Erde, alles Bewusste erhebt sich zum Licht, jedoch mit und aufgrund bewusster irdischer Wurzeln.
Dieser Prozess kann nicht rein gedanklich vollzogen werden. Mula-Bandha, oder Wurzelschleuse, die Aktivierung des Beckenbodens und der damit veränderte Atemfluss, sowie der Temperatur im Bauchbereich ist Voraussetzung für diesen Wandel.
Die Ein- und Ausatmung treffen sich in den Pausen dazwischen; die rechte Sonnenseite der Atmung trifft die linke Mondseite, die linke oder rechte Nasenöffnung, der linke und rechte Lungenflügel, oder unsere Hirnhälften treffen sich im Prinzip der Einheit: An der Basis der Wirbelsäule. Durch die Aktivierung der Muskulatur im Beckenboden und darüber, ganz physisch. Da wir keinen direkten Zugang zur Moderation der eben genannten Dualität haben, nutzen die Yogis Hebel. Öffnen und schließen der verschiedenen Kanäle, Verdichtung oder Weitung des Atemflusses, Konzentration oder Entspannung, Hitze oder Abkühlung der Gefäße bewirkt einen Wandel der intrinsischen Alchemie.
Wenn so also die Richtung unserer Kräfte bewusst geführt wird, streben die Pranas als Ojas, von der Basis der Wirbelsäule nach oben zum Herzen. Auf diesem Weg, so wie auf jeder wirklichen Reise gibt es Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Vor allem steht uns unsere konditionierte Wahrnehmung der eigenen Person in der Welt im Weg. Meinten wir eben noch, wir müssten uns als Person optimieren, z.B. für Märkte aller Art (Heirats-, Arbeits,- Sozial,- Aktien,-) erkennen wir, dass die Reise und unser Wachstum nicht dort stagnieren sollten, und eigentlich darüber hinaus in einer herzlichen, integrativen Weise mit einer größeren Ordnung als der eigenen Agenda assoziiert werden können. Um diese Knoten des Egos – die Yogis nennen diese „Granthi“ – zu lösen, nutzen wir den nächsten Hebel: Uddiyana Bandha.
Anatomisch ist es eine gezielte Kompression des unteren Bauchbereichs, jedoch nicht durch Aktion, sondern durch passives Zulassen einer Bewegung des Zwerchfells, die durch eine Vakuum-Suppression des Brustkorbs bei der Ausatempause entsteht. Einfacher ausgedrückt, durch das Loslassen der abdominalen Muskulatur in der Ausatempause bei gleichzeitiger Kontraktion des Beckenbodens (Mula Bhandha), schießt Prana praktisch durch den Widerstand aller weltlichen Anhaftungen und strömt höher, ins Herz.
Das Herz ist der Ort, in dem wir unser weltliches und spirituelles Leben verbinden lernen. Damit jedoch die Kräfte nicht ungeordnet über das Herz hinaus in unser universelles Sein fliehen, blockieren wir den Weg des Prana und lenken es in die feineren Regionen unserer Psyche, letztlich um eine letzte wirkliche Klärung dieser Kräfte zu erlangen.
Diese Blockade, oder Schleuse oder Reinigung, findet um unser „Vishuddha Chakra“ statt, die Schnittstelle unserer geistig-herzlichen Kommunikation, eben dem Bereich zwischen Kopf und Herz, dem Hals. Hier üben wir Jalandhara Bandha, dass ich gerne mit Wolkensammeln übersetze. So wie die Wolken kumulieren, und erst bei entsprechender Dichte abregnen, sammeln wir das Prana im Hals und lassen die Essenz in unser Herz „regnen“.
Nur der feinste Teil jedoch darf nun über den entstandenen Pfad in die höchsten Bereiche unseres Selbst vordringen. Dort, wo nicht mehr der Gärtner entscheidet, sondern nur noch die Natur, und der Gärtner ein Teil dieser ist.
Darüber hinaus gibt es tatsächlich nicht viel zu sagen, denn das da für jeden individuell Erfahrbare ist nicht sagbar in Worten. Und alle, die es erfahren, berichten nicht vom Ort, sondern vom Gefühl: Da ist nur Liebe. Diese Liebe hat alle und keinen Namen und das Licht dieser Liebe hat viele Formen. Wie die unterschiedlichen Strukturen auf dem Mond das Sonnenlicht auf ihre besondere Weise reflektieren, so reflektieren alle Seelen dieses Licht auf ihre ganz eigene Weise.
Die Yogis wollen vor allem und zu allen Zeiten mit diesem Licht verbunden sein. Daher binden sie ihr Bewusstsein an dieses Licht; vielleicht wollen wir es Brahma nennen. Dieses Brahma-Bandha ist so das wohl wichtigste und umfassendste der Prinzipien der Reifung des menschlichen Potenzials, wenn auch das individuellste und wohl schwierigste.
Doch, wie in jedem Garten gibt es bessere und weniger gute Jahre. Daher sollten wir vor allem mit beständigem Enthusiasmus die Gesetze lernen und Erkenntnisse ordnen, ohne ein persönlicher oder zeitlicher Anspruch auf eine bestimmte Erfahrung. Wer je einen Garten gepflegt hat, weiß sicher: Es braucht Geduld und Widmung, und wie immer, ein bisschen Liebe. Damit wir folgendes nie vergessen: Wir und alle Wesen an allen Orten sind schon ein Garten. Und wir haben eine liebende, geduldige Gärtnerin.
Erkenntnis ist vor allem: Vertrauen.