Yoga im Herbst: Eine Einladung zum Loslassen
Es ist Herbst. Die Blätter färben sich golden, die Luft wird kühl. Wenn du dich dafür öffnest, wirst du spüren, dass die Natur gerade regelrecht eine Einladung an uns ausspricht, uns einer Tatsache bewusst zu werden, die unser Leben jeden Tag und jede Minute beeinflusst: Veränderung geschieht – ob wir es wollen oder nicht.
Wenn du zu den vielen Menschen gehörst, für die Veränderungen oft herausfordernd oder vielleicht sogar beängstigend sind, oder wenn du die besondere Zeitqualität des Herbstes bewusst nutzen willst, um nicht gegen den, sondern mit dem Strom des Lebens zu schwimmen, dann kannst du jetzt deine Yogapraxis nutzen, um dich auf diesen feinen und doch tiefen Wandel im Herbst einzustimmen und voll einzulassen.
Halt mal an – Ricardia Bramley
Leben heißt Veränderung
Der Wechsel der Jahreszeiten kann immer wieder eine schöne Gelegenheit sein, achtsam innezuhalten, genau hinzuschauen, zu reflektieren, um uns vielleicht neu auszurichten und frische Visionen für die Zukunft zu formulieren. Und meiner Meinung nach eignet sich der Übergang vom Sommer in den Herbst hier besonders gut, weil wir nach den langen, wohligen Sonnentagen – der Sommer ist für mich der Inbegriff der Unbeschwertheit – plötzlich wieder mehr mit äußeren Umständen durch den Wetter- und Klimaumschwung konfrontiert sind, die eher ungemütlich sind: Regen, Kälte, Dunkelheit – nicht ohne Grund spricht man vom Herbstblues; wir fühlen uns müde, antriebslos, irgendwie wie in einen grauen Schleier gehüllt.
Eine Zeit lang hatte ich darum eine große Sehnsucht danach, an einem Ort auf der Welt zu leben, an dem es immer warm ist. Ein paradiesisches Fleckchen, an dem jeden Tag die Sonne scheint und mir graue Wolken nicht die Stimmung vermiesen.
Heute liebe ich die Jahreszeiten. Nicht nur darum, weil der erste Sonnentag im Frühling, an dem man wieder im T-Shirt raus kann, durch die dunklen Wintertage für mich so richtig besonders wird, sondern weil ich durch die Jahreszeiten immer wieder an eine wichtige Tatsache erinnert werde: In dieser irdischen Realität, in der sich mein Bewusstsein gerade in einem Körper mit Sinneswahrnehmungen erfahren darf, ist der Prozess des Werdens und Vergehens ein Fakt – und das Leben hat es für uns alle so eingerichtet, dass wir im Außen wieder und wieder (und wieder!) daran erinnert werden.
Aversion, Anhaftung, Regentage, Sonnentage
Eine Abneigung gegen Regen und Kälte – Phänomene, die wir gerne mit dem Label „schlechtes Wetter“ behaften, offenbart darum eigentlich ein Unvermögen im Innern, alles willkommen zu heißen, was ist, und die wahre Schönheit der Veränderung zu sehen. Bleiben wir bei der Kälte: Auch sie ist schlussendlich nur eine Form der Energie, was für uns erfahrbar wird, wenn wir unsere negativen Gedanken an sie loslassen. Probier es gerne mal aus: Wenn dir das nächste Mal kalt ist, entspann dich ganz in dieses Körpergefühl hinein. Lass den Atem fließen, löse deine Muskeln bewusst und lass Gedanken daran, dass dieses Körperempfinden nicht sein darf, mit der Ausatmung los.
In der Yogaphilosophie werden wir eingeladen, unser Schubladendenken zu hinterfragen und aufzulösen, die Fluktuationen (oder Bewegungen) des Geistes zur Ruhe zu bringen, wie Patanjali es in seinem Yoga-Sutra formuliert. Denn in dem Moment, in dem wir mit unseren Gedanken etwas als nicht wünschenswert und falsch bewerten – oder in dem wir an etwas im Außen krampfhaft festhalten, was jedoch immer vergänglich ist – sind wir in die Falle von Aversion und Anhaftung getappt, was viele spirituelle Traditionen als den Grund allen Schmerzes und Leidens betrachten.
Vielleicht scheint dir das Beispiel mit dem „schlechten” Wetter im Herbst und die Brücke zum Leiden ein wenig zu weit gespannt. Aber eigentlich kannst du hier jede Veränderung als Beispiel nehmen, mit der du haderst: Du hast deinen Lieblings-Pulli in der Bahn verloren; dein Partner oder deine Partnerin trennt sich von dir; du bist in einen Unfall verwickelt, der dich für Wochen ans Bett fesselt; jemand aus deinem engen Kreis stirbt.
Ob es das goldgelbe Blatt am Baum im Herbst ist, das sich löst, zu Boden fällt und verrottet oder ob es der Tod eines Menschen ist: Beide Situationen spiegeln schlussendlich den Prozess des Werdens und Vergehens wider. Sie sind unausweichlich – auch wenn sie uns beide natürlich in ganz anderem Ausmaß berühren und herausfordern. Doch du kannst das fallende goldgelbe Blatt heute schon nutzen, um dich darin zu üben, Veränderung offen zu begegnen, Licht auf deine eigenen Muster in Bezug auf Aversion und Anhaftung zu bringen und in deinem Geist loszulassen, was in deinem Leben für Leid und Schmerz sorgt.
Wenn du das nächste Mal in eine Situation kommst, in der du mit einer Veränderung im Außen konfrontiert bist, die dich herausfordert, frage dich:
· Was kann ich gerade in meinem Körper wahrnehmen?
· Welche Gedanken und Gefühle sind da?
· Was darf ich aus dieser Situation lernen?
Yoga im Herbst – Hingabe und Demut
Kannst du dir vorstellen, dass ein Baum im Herbst krampfhaft an seinen Blättern festhält, weil er sie einfach nicht loslassen will? Nein, denn das wäre gegen die Natur des Baumes. Und genauso ist es gegen unsere Natur, krampfhaft an etwas im Außen festzuhalten, weshalb es auch so viel Schmerz erzeugt, wenn wir es doch tun. Unsere wahre Natur ist für uns mehr und mehr in Vergessenheit geraten, als wir u. a. durch unser materialistisches Weltbild damit angefangen haben, uns so sehr über das Außen zu definieren, dass jedes Loslassen eines Gegenstandes, Konzepts oder Menschen von uns jetzt als ein kleiner Tod empfunden wird.
Hingabe in der Praxis – Kevin Courtney
Aber jenseits all dieser Bewegungen, des Wandels, der Erscheinungen, die kommen und gehen, ist unser Stillpunkt, unsere Essenz. Auch die Jahreszeiten tanzen um diesen Stillpunkt herum. Dich auf diese Essenz zurückzubesinnen kann dein Anker werden, um nicht von Veränderungen im Leben weggetragen zu werden. Dich auf diese Essenz zurückzubesinnen, ist Yoga.
Ein anderes Wort für Loslassen ist für mich Hingabe. Ein anderes Wort für Akzeptanz ist für mich Demut. Wenn wir den Wandel im Herbst und darüber hinaus jeden äußeren und inneren Wandel, auch den unserer Gedanken und Gefühle, mit Neugier und Liebe willkommen heißen, leben wir nicht nur leichter, sondern unserer Natur gemäß. Diesen Seins-Zustand können wir durch Yoga kultivieren. Dann spüren wir mit der Zeit immer intensiver, dass jede Veränderung eine Einladung ist, uns mit unserer Essenz zu verbinden.
In diesem Sinne: Danke, Mutter Natur. Lass die Blätter fallen.
Yoga im Herbst: 5 Übungen
Diese Yogaübungen kannst du in deine Praxis im Herbst vermehrt einbauen, um die Zeitqualität bewusst einzuladen. Vielleicht willst du dir auch einen kleinen Altar mit gefallenen Blättern oder anderen Naturgegenständen gestalten, um dich an den ständigen Wandel und die Schönheit dessen zu erinnern.
Malasana für Hingabe
Sich dem Leben hinzugeben, bedeutet alle Veränderungen willkommen zu heißen und ganz darauf zu vertrauen, dass das Universum den richtigen Plan für uns hat. Malasana, die tiefe Hocke, befähigt dich dazu, dich ganz der Erde hinzugeben und löst durch die tiefe Hüftöffnung Blockaden, die dich klein halten. Wenn es eng wird in Malasana, bleib präsent. Sende durch den Atem Weite in deine Hüften und gib dich der Erfahrung hin.
Paschimottanasana für Demut
Gedanken, Gedanken und noch mehr Gedanken. Gerade in Haltungen, in denen wir zur Ruhe kommen und körperlich innehalten, schießen oftmals Ideen, Konzepte und Wertungen hoch, die uns sagen wollen, was richtig oder falsch sei (wie zum Beispiel „Wie lange soll ich hier denn noch verweilen?“). In der sitzenden Vorwärtsbeuge kannst du üben, deine Gedanken wahrzunehmen und wertfrei ziehen zu lassen. Das fördert deine Demut und deine Kapazität, jenseits der Bewegungen des Geistes nach Antworten zu suchen.
Ustrasana für die Öffnung zum Leben
Wenn es draußen grau und kalt wird oder dich das Leben vor Herausforderungen stellt, die deine Stimmung trüben und dich traurig machen, kann dir Ustrasana, das Kamel, helfen, dich nicht zu verschließen, sondern dein Herz offenzulegen. Zeig dich der Welt, bleib dabei verwurzelt in deinem Sein, das unerschütterlich ist, und du kannst jede Veränderung meistern.
Virabhadrasana III für Balance und Stärke
Veränderungen fordern von uns in einem besonderen Maß Balance und Kraft. Damit ist weniger die körperliche Kraft gemeint als vielmehr die mentale Stärke, also Resilienz. Um stabil zu bleiben und nicht so schnell den Boden unter den Füßen zu verlieren ist der Krieger III dein Asana, um den Körper und den Geist für Stürme jeglicher Art zu rüsten.
Und natürlich: Vrikshasana für Erdung
Was wäre Yoga im Herbst ohne den Baum? Nicht allein wegen der schönen symbolischen Bedeutung (lass deine Arme gerne ein wenige von Seite zu Seite wedeln und schüttel deine welken Blätter ab), sondern einfach weil der Baum eines der effektivsten Asanas für volle Erdung ist. Lass deine Wurzeln tief in den Boden wachsen. Egal was kommt: Du stehst voll im Leben.
Liebe deine Schatten – mehr Selbstakzeptanz durch Hatha Yoga
Ha-Tha Yoga ist eine Praxis, die in Polaritäten verwurzelt ist: Sonne und Mond, Bemühung und Mühelosigkeit, Pingala und Ida Nadi, positive und negative Energien, grob und subtil, männlich und weiblich, Anhaftung und Abneigung sowie individuelles Selbst und universelles Selbst. Trotzdem haben wir uns bei unserer Adaption der Praxis dazu entschlossen, meist nur die kommerziell attraktiven Aspekte hervorzuheben und aufzuzeigen, während der Rest größtenteils vernachlässigt oder gleich ganz ignoriert wird. Das führt dazu, dass viele von uns verunsichert darüber sind, wie wir all das verarbeiten und integrieren können, was nicht zum Stereotyp eines “guten Yogis” passt, der immer schön lächelt und jede Situation mit Anmut und Akzeptanz meistert.
Indem wir weder den Wert der Erforschung dessen durch Ha-Tha Yoga anerkennen, was manche die ‚Schattenseite‘ des Menschseins nennen, noch dafür eintreten, können wir unbewusst zu Gefühlen von Frustration, Betrug und Misserfolg in der Yoga-Community beitragen.” Gina Caputo
Nur Licht und Liebe in der Yoga-Szene?
Wie der Name und die tantrische Herkunft schon andeuten, ist Ha-Tha Yoga eine Praxis, um das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung zu erforschen und alles in einer evolutionären spirituellen Reise in Ganzheit oder Yoga (Vereinigung) zu verschmelzen. Aber wenn man sich in der Szene umsieht, sieht man fast ausschließlich „Licht & Liebe“ und „Good Vibes Only“ Botschaften, was daran liegen mag, dass Slogans wie „Lass uns zusammen leiden, und zwar genau das richtige Maß, um etwas zu lernen“ nicht den gleichen ansprechenden Klang zu haben scheinen.
Und so unterdrücken viele von uns Gefühle und Ausdrucksformen, die nicht ins Bild passen, sozusagen die „schlechten Schwingungen“, die schließlich zu einer ungeheuren und stressigen Last werden können, wenn wir uns durch die Welt bewegen – aus Angst, dass die Wahrheit offenbart wird. Dieser Stress kann Bewältigungsstrategien wie Alkohol- und Drogenmissbrauch oder gestörtes Essverhalten auslösen, die wir dann ebenfalls verstecken wollen, weil wir ja Yogis sind und „Yogis so etwas nicht tun sollten“. Bei dieser Praxis, die das Studium und die Vereinigung von Polaritäten betont, scheinen wir in unserer Umsetzung ziemlich einseitig zu sein. Wir können uns eine wichtige Frage stellen: Wie können wir, wenn wir unsere Schattenseite und die Natur des Unbehaglichen oder des Unangenehmen nicht wirklich erforschen und anerkennen lernen, jemals erwarten, ihre wesentlichen Angebote in Weisheit zu verwandeln?